Bessere Anschlüsse, Erreichen der Klimaziele: Die Grünen wollen die Corona-Krise zur Änderung des Schienenverkehrs nutzen. Ihr Plan würde einen radikalen Umbau der Deutschen Bahn bedeuten.
Noch kurz vor Weihnachten wollte die Bahn Vertrauen schaffen. Vorstand Ronald Pofalla zählte Mitte Dezember noch auf, was der Konzern so alles tut, um Corona-Sicherheit für Reisende zu schaffen: Abstandsmarkierungen auf dem Boden, desinfizierender Speziallack an Schaltern, jeden Tag 25 000 Durchsagen mit Pandemie-Regeln. Doch die Züge blieben leer, oft war nur jeder fünfte Platz besetzt. Die Folge: Ein finanzielles Debakel für die Bahn, die gerade eigentlich zum Verkehrsmittel des Jahrzehnts werden soll. Doch wegen der Pandemie sinken die Einnahmen drastisch. Vom „schlechtesten Szenario“ spricht inzwischen auch das Bundesverkehrsministerium.
Der Druck wächst in diesen Wochen auch deshalb, den Kurs der Bahn zu ändern. Denn Anspruch und Wirklichkeit klafften schon vor der Pandemie weit auseinander. Der größte deutsche Staatskonzern soll eigentlich in das eigene Wachstum investieren. Immer neue Finanzlücken aber sorgen für immer neue Rückschläge. Während sich die große Koalition bislang jedoch nicht auf eine Reform einigen kann, legt nun die Opposition einen Plan vor. Auf 25 Seiten skizziert die Grünen-Bundestagsfraktion, wie die Bahn-Zukunft aussehen soll. Das Papier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, dürfte bei der Bahn und im Verkehrsministerium für gewaltige Unruhe sorgen.
Denn neun Monate vor der Bundestagswahl machen die Grünen klar, dass sie bei der Bahn kaum einen Stein auf dem anderen lassen wollen. Sie soll mit insgesamt rund 170 Milliarden Euro bis ins kommende Jahrzehnt zwar noch mehr Geld bekommen als von der Bundesregierung geplant (gut 150 Milliarden Euro). Aber sie soll auch deutlich mehr liefern: Mehr Fernzüge zwischen mehr Großstädten etwa, 3000 Kilometer an wiederbelebten Trassen und die Sanierung von 5700 Bahnhöfen. Und selbst das ist nur ein Teil des Grünen-Plans. Das Ziel: Nach der Pandemie soll der Verkehr auf der Schiene rasant wachsen. Der Anteil der Bahn am Personenverkehr soll sich bis 2030 auf 20 Prozent verdoppeln, der des Güterverkehrs von 19 auf 30 Prozent wachsen.
In der Bahnzentrale gibt es schon Unruhe. Die Grünen haben gute Chancen, künftig mitzuregieren
Mit kleinen Korrekturen wird das nicht klappen. „Nur mit dem massiven Ausbau des Schienenverkehrs wird Deutschland seine Klimaschutzziele erreichen“, heißt es in dem Papier weiter. „Rumfrickeln reicht nicht mehr“, warnt auch Fraktionschef Anton Hofreiter. Die Weichen müssten jetzt neu gestellt werden. Die Entschlossenheit der Grünen löst in der Bahnzentrale bereits Unruhe aus. Denn angesichts hoher Umfragewerte haben die Grünen gute Chancen auf eine Regierungsbeteiligung. Das Interesse am Verkehrsressort ist seit Langem groß. „Das Papier könnte uns bei Koalitionsverhandlungen helfen“, heißt es in den Reihen der Grünen.
Kern des Konzepts ist eine stärkere Steuerung des Bahnangebots durch die Politik. So soll der Bund eine neue „Koordinierungsstelle für den Fernverkehr“ einrichten, die Fahrpläne im Fernverkehr bestimmt – und nicht mehr die Bahn. Sie würde damit stark an Einfluss auf den Fernverkehr verlieren. Entstehen soll eine neue Schaltzentrale für den Bahnverkehr, die dem Verkehrsministerium unterstellt ist. Sie soll festlegen, welche Städte wie oft von welchen Zügen angefahren werden.
Der jahrelange Rückzug aus der Fläche soll umgedreht werden
Dabei gilt: Alle deutschen Großstädte sollen wieder an das Fernbahnnetz der Bahn angeschlossen werden, auch wenn sich das für die Bahn nicht rechnet. Für solche Verbindungen soll zusätzliche finanzielle Unterstützung fließen. Das Konzept solle den jahrelangen Rückzug der Bahn aus der Fläche umkehren, heißt es in dem Papier. Zu den Plänen zählen auch der Ausbau der schnellen Sprinter-Verbindungen und der Ausbau der Nachtzugverbindungen, um dem Flugverkehr Konkurrenz zu machen.
Für Kunden soll das Reisen einfacher werden. Etwa mit einem bundesweiten Tarifsystem, das Kunden bei Verspätungen auch das Umsteigen auf Züge anderer Anbieter erlaubt. Die Nahverkehrstarife sollen einheitlicher und über eine App buchbar sein. Bahnhöfe sollen auch auf dem Land besser mit Verleihsystemen von E-Rollern oder Rädern verknüpft werden. In Städten planen die Grünen den Ausbau von Fahrradparkhäusern an Bahnhöfen.
Das ganze Konzernmodell stellt die Partei infrage: Statt einer AG vielleicht eine gemeinwohlorientierte Gesellschaft?
Damit das überhaupt möglich wird, sollen Staatseinnahmen aus der Lkw-Maut, die eigentlich für den Straßenbau bestimmt sind, künftig in den Schienenverkehr fließen. „Wir wollen den fatalen Kreislauf durchbrechen, dass mehr Verkehr auf der Straße auch zu mehr Straßen führt – und damit wieder zu mehr Verkehr“, sagt der Grünen-Verkehrspolitiker Matthias Gastel. Dennoch gehen die Grünen davon aus, dass der Bund künftig mehr Geld in die Bahn stecken kann. Die leeren öffentlichen Kassen nach der Pandemie lassen allerdings anderes erwarten.
Seit Jahren gibt es Kritik an der Rechtsform der Bahn. Auch die soll sich ändern. Die Bahn soll künftig keine gewinnorientierte Aktiengesellschaft mehr sein. Die Grünen wollen den Konzern aufspalten. Die Gesellschaften für das Netz, die Bahnhöfe, Immobilien und Energie sollen als gemeinwohlorientierte Gesellschaft ausgelagert werden. Die Bahn solle zudem ihr undurchschaubares Geflecht von 700 Tochterunternehmen auflösen. Weinlogistik in Übersee, Minenverkehr in Australien oder Wasserbusse in Kopenhagen hätten mit dem Kerngeschäft in Deutschland zu wenig zu tun, wettern die Grünen.
Quelle: Süddeutsche.de vom 28.12.2020 Autor: Marcus Balser